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Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Kirchensteuer beim Arbeitslosengeld - 1 BvL 8/85

Beschluß des Ersten Senats vom 23. März 1994 aufgrund des Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Januar 1985 - L-6 Ar-1441/83. Abgedruckt in den BVerfGE 90, 226 und in der NJW 1994, 2346.

Zur Entwicklung der Kirchensteuerzahleranteils siehe auch Abschnitt 3. im Urteil des Bundessozialgerichts vom 8. November 2001, B 11 AL 43/01 R und das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Juni 2003, 1 AL 174/02.

Das Urteil gilt auch für das Altersübergangsgeld und die neuen Bundesländer, siehe Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juli 2002, 1 BvR 131/95.

Leitsatz

Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, daß nach § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehören, bei der Berechnung des Nettoentgelts, nach dem sich die Höhe des Arbeitslosengeldes bestimmt, ein Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen ist.

Entscheidungsformel

§ 111 Absatz 2 Satz 2 Nummer 2 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Artikels 27 Nummer 8 des Einführungsgesetzes zum Einkommensteuerreformgesetz vom 21. Dezember 1974 (Bundesgesetzbl. I Seite 3656) ist, auch soweit davon Arbeitslose betroffen sind, die einer kirchensteuererhebenden Kirche nicht angehören, mit dem Grundgesetz vereinbar.

Gründe

A.

Die Vorlage betrifft die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, daß auch bei Arbeitslosen, die einer kirchensteuererhebenden Kirche nicht angehören, bei der Berechnung des Nettoentgelts, nach dem sich die Höhe des Arbeitslosengeldes bestimmt, ein Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen ist.

[...]

C.

Die zur Prüfung gestellte Norm ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

I.

§ 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG war in der hier maßgeblichen Zeit mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar.

1. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld fällt jedenfalls dann in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie, wenn alle gesetzlichen Voraussetzungen für dessen Bezug vorliegen (vgl. BVerfGE 72, 9 [18 f.]). Die konkrete Reichweite des Schutzes ergibt sich aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums durch den Gesetzgeber. Dieser hat bei der Regelung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung einen weiten Gestaltungsraum. Er muß aber die rechtsstaatlichen Grundsätze beachten und darf sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen.

2. a) § 111 Abs. 2 AFG regelt die Bemessung des Arbeitslosengeldes, dessen Funktion es ist, dem Arbeitslosen angemessen Ersatz für den Ausfall zu leisten, den er dadurch erleidet, daß er keinen bezahlten Arbeitsplatz findet. Da das Arbeitslosengeld kein steuerpflichtiges Einkommen ist und von ihm auch keine Sozialabgaben abzuziehen sind, ist es sachgerecht, für seine Bemessung grundsätzlich an den Nettolohn anzuknüpfen, den der Arbeitnehmer vor Eintritt der Arbeitslosigkeit zuletzt bezogen hat. Dabei kann der Gesetzgeber sich aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität für eine Pauschalierung entscheiden, die eine zügige Feststellung der Leistungshöhe ermöglicht (vgl. BVerfGE 17, 1 [23]; 63, 255 [262]). Es ist deshalb grundsätzlich nicht zu beanstanden, daß die Lohnabzüge für die Berechnung des Nettolohnes nicht individuell ermittelt werden, sondern der individuelle Bruttolohn um die durch Rechtsverordnung konkretisierten »gewöhnlich« anfallenden Abzüge zu vermindern ist.

Mit rechtsstaatlichen Grundsätzen wäre es jedoch nicht mehr vereinbar, wenn der Gesetzgeber die Höhe des Arbeitslosengeldes auf einen bestimmten Prozentsatz des Nettolohnes festlegte, die Berechnung des Nettolohnes aber so regelte, daß er auch bei typisierender Betrachtung nicht mehr dem um die »gewöhnlich« anfallenden Abzüge verminderten Arbeitsentgelt entspräche. Mit einem solchen Verfahren würde der Gesetzgeber sich zu seiner eigenen Entscheidung, Arbeitslosengeld in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes vom Nettolohn zu gewähren, in Widerspruch setzen und gegen das Gebot der Rechtsklarheit verstoßen.

b) Die Kirchensteuer unterscheidet sich von den übrigen in § 111 Abs. 2 AFG aufgeführten gesetzlichen Abzügen insofern, als es sich bei ihr nicht um eine Abgabe handelt, die dem Einzelnen als Staatsbürger oder als Versicherungspflichtigem auferlegt wird, sondern um eine Steuer, die eine Religionsgesellschaft aufgrund der ihr eingeräumten Befugnis von ihren Mitgliedern erhebt. Die Entscheidung, einer bestimmten oder überhaupt keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, beruht auf einem persönlichen Entschluß des Einzelnen, der durch die Religionsfreiheit geschützt wird.

Das schließt eine typisierende Regelung in bezug auf die Kirchensteuer nicht von vornherein aus. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, bei der Berechnung des Nettolohnes auch Abgaben zu berücksichtigen, die an eine individuelle Entscheidung des Arbeitnehmers anknüpfen, solange er sich in den Grenzen zulässiger Typisierung hält. Das ist der Fall, wenn er aufgrund statistischer Erkenntnisse davon ausgehen kann, daß die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer die Abgabe zu zahlen hat und deren Abzug nicht sehr stark ins Gewicht fällt. Diese Voraussetzung lag bei der Kirchensteuer vor, als der Gesetzgeber die zur Prüfung gestellte Vorschrift schuf.

Knüpft der Gesetzgeber bei einer typisierenden Regelung an statistische Erkenntnisse an, muß er aber die weitere Entwicklung beobachten, um wesentlichen Veränderungen rechtzeitig Rechnung tragen zu können. Mit dem vom Gesetzgeber selbst gewählten Ansatz und dem Gebot der Normenklarheit wäre es nicht mehr vereinbar, die Kirchensteuer bei der Berechnung des Nettolohnes auch dann noch als »gewöhnlich« anfallenden gesetzlichen Abzug in Ansatz zu bringen, wenn die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die Kirchensteuer erhebt, nicht mehr als für Arbeitnehmer typisch angesehen werden könnte, wenn also nicht mehr eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer solchen Kirche angehörte.

Zu einer Überprüfung, ob die Kirchensteuer auch künftig noch als »gewöhnlich« anfallender Abzug anzusehen ist, dürfte schon deshalb Anlaß bestehen, weil ein großer Teil der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern keiner Kirche angehört, die Kirchensteuer erhebt. Zu der für die Entscheidung im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit durfte der Gesetzgeber jedenfalls noch davon ausgehen, daß die Kirchenzugehörigkeit typisch war.

II.

Die zur Prüfung gestellte Norm verletzt auch keine anderen Grundrechte.

1. Der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG ist nicht berührt. Die Leistungssätze für das Arbeitslosengeld sind gleich hoch ohne Rücksicht darauf, ob der Arbeitslose in seinem früheren Beschäftigungsverhältnis Kirchensteuer entrichtet hat oder nicht. Die Regelung gibt also weder einen Anreiz, aus einer Kirche auszutreten, noch einen Anreiz, die Mitgliedschaft in einer Kirche anzustreben. Dies gilt sowohl für Arbeitnehmer, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, aber eine Arbeitslosigkeit befürchten müssen, als auch für Arbeitslose während des Bezugs von Arbeitslosengeld. Die Regelung berührt daher die Freiheit des religiösen Bekenntnisses nicht, auch nicht die Bekenntnisfreiheit von Personen, die einer kirchensteuerberechtigten Kirche nicht angehören. Die Regelung hat auch nicht - wie vielfach fälschlich angenommen wird - zur Folge, daß die Arbeitslosen, die keiner steuererhebenden Kirche angehören, mit Beträgen belastet werden, die einer Kirche zugutekommen.

2. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.

a) Die zur Prüfung gestellte Norm betrifft einerseits Arbeitslose, die einer kirchensteuererhebenden Kirche angehören und deshalb in ihrem vorangehenden Beschäftigungsverhältnis Kirchensteuer entrichtet haben, andererseits Arbeitslose, die einer solchen Kirche nicht angehören.

Art. 3 Abs. 1 GG gebietet aber nicht, unter allen Umständen Ungleiches ungleich zu behandeln. Der allgemeine Gleichheitssatz ist nicht schon dann verletzt, wenn der Gesetzgeber Differenzierungen, die er vornehmen darf, nicht vornimmt (vgl. BVerfGE 4, 31 [42]; 86, 81 [87]). Es bleibt grundsätzlich ihm überlassen, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er also im Rechtssinn als gleich ansehen will (BVerfGE 21, 12 [26]; 23, 242 [252]). Allerdings muß er die Auswahl sachgerecht treffen (vgl. BVerfGE 17, 319 [330]; 53, 313 [329]; 67, 70 [85 f.]; st. Rspr.). Der normative Gehalt der Gleichheitsbindung erfährt auch insoweit seine Präzisierung jeweils im Hinblick auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs (vgl. BVerfGE 75, 108 [157]). Art. 3 Abs. 1 GG ist danach dann verletzt, wenn für die gleiche Behandlung verschiedener Sachverhalte - bezogen auf den in Rede stehenden Sachbereich und seine Eigenart - ein vernünftiger, einleuchtender Grund fehlt (vgl. BVerfGE 76, 256 [329]).

b) Nach diesen Grundsätzen ist die zur Prüfung gestellte Regelung nicht zu beanstanden. Sie hat zur Folge, daß die Versicherten - ohne Rücksicht auf ihre Kirchenzugehörigkeit - bei gleicher Beitragsleistung und gleicher Bedarfssituation gleiche Versicherungsleistungen erhalten. Das entspricht dem Beitrags- oder Versicherungsprinzip, dessen Bedeutung für das System der Sozialversicherung das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat (vgl. BVerfGE 59, 36 [49 ff.]; 63, 152 [171]). Das Versicherungsprinzip ist dadurch gekennzeichnet, daß im Grundsatz eine Äquivalenz von Beitrag und Leistung besteht. Im Bereich der Arbeitslosenversicherung ist es allerdings nicht geboten, das Arbeitslosengeld in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen (vgl. BVerfGE 51, 115 [124]; 53, 313 [328]). Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß der Gedanke der Beitragsäquivalenz ungeeignet sei, eine Regelung zu rechtfertigen, die in der Arbeitslosenversicherung Leistungen nach Maßgabe der Beiträge zumißt (vgl. BVerfGE 60, 68 [77]).

Ein Versicherter, der keiner steuererhebenden Kirche angehört, hat zwar in der Zeit vor seiner Arbeitslosigkeit über höhere Geldmittel verfügt als ein vergleichbarer kirchensteuerzahlender Arbeitnehmer. Der Gesetzgeber ist aber nicht gezwungen, das die Arbeitslosenversicherung beherrschende Prinzip der Beitragsäquivalenz zu durchbrechen, um diesem Umstand Rechnung zu tragen. Das Lebensstandardprinzip ist kein Verfassungsgebot. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehalten, dem Arbeitslosen durch die Bemessung des Arbeitslosengeldes die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstandards voll zu ermöglichen (BVerfGE 72, 9 [20 f.]). So ist es beispielsweise auch nicht geboten, bei der Bemessungs des Arbeitslosengeldes zuvor geleistete Überstunden zu berücksichtigen, um dem Versicherten die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstandards zu sichern (vgl. BVerfGE 51, 115 [125]).

Ist hiernach das Prinzip der Beitragsäquivalenz ein hinreichender sachlicher Gesichtspunkt, um die zur Prüfung gestellte Regelung zu rechtfertigen, bedarf es keines Eingehens mehr darauf, ob die Regelung auch wegen der Berechtigung des Gesetzgebers zu generalisierenden, typisierenden und pauschalierenden Regelungen vor Art. 3 Abs. 1 GG Bestand haben könnte.

(gez) Herzog Grimm Henschel Söllner Seibert Seidl Kühling