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Rückwirkung - Rückbewirkung von Rechtsfolgen - tatbestandliche Rückanknüpfung

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zitiert aus dem Urteil vom 3.12.1997, BVerfGE 97, 67 [78 ff.]

I. 1. a) Vor dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes bedarf es besonderer Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert. Die Verläßlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände im nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten (vgl. BVerfGE 30, 272 [285]; 72, 200 [257 f.]; stRspr).

Eine Rechtsnorm entfaltet Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm gültig geworden ist (vgl. BVerfGE 72, 200 [241]). Der zeitliche Anwendungsbereich einer Norm bestimmt, in welchem Zeitpunkt die Rechtsfolgen einer gesetzlichen Regelung eintreten sollen. Grundsätzlich erlaubt die Verfassung nur ein belastendes Gesetz, dessen Rechtsfolgen für einen frühestens mit der Verkündung beginnenden Zeitraum eintreten. Die Anordnung, eine Rechtsfolge solle schon für einen vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegenden Zeitraum eintreten (Rückbewirkung von Rechtsfolgen, »echte« Rückwirkung), ist grundsätzlich unzulässig. Der von einem Gesetz Betroffene muß grundsätzlich bis zum Zeitpunkt der Verkündung einer Neuregelung darauf vertrauen können, daß er nicht nachträglich einer bisher nicht geltenden Belastung unterworfen wird (vgl. BVerfGE 72, 200 [242, 254]). Dieser Schutz des Vertrauens in den Bestand der ursprünglich geltenden Rechtsfolgenlage findet seinen verfassungsrechtlichen Grund vorrangig in den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit (vgl. BVerfGE 45, 142 [167 f.]; 72, 200 [242]; 83, 89 [109 f.]).

Demgegenüber betrifft die tatbestandliche Rückanknüpfung (»unechte« Rückwirkung) nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm. Die Rechtsfolgen eines Gesetzes treten erst nach Verkündung der Norm ein, deren Tatbestand erfaßt aber Sachverhalte, die bereits vor Verkündung »ins Werk gesetzt« worden sind (vgl. BVerfGE 31, 275 [292 ff.]; 72, 200 [242]). Diese Tatbestände, die den Eintritt ihrer Rechtsfolgen von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig machen, berühren vorrangig die Grundrechte (vgl. BVerfG, a. a. O.) und unterliegen weniger strengen Beschränkungen als die Rückbewirkung von Rechtsfolgen (vgl. BVerfGE 92, 277 [344]). Für das Einkommensteuerrecht kommen je nach Art der betroffenen Einkünfte und der Wege, auf denen sie erzielt worden sind, namentlich Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 und 2 sowie Art. 2 Abs. 1 GG als betroffene Rechte in Betracht (vgl. BVerfGE 72, 200 [242 f, 253 f.]).

b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entfällt das schutzwürdige Vertrauen in den Bestand der bisherigen Rechtsfolgenlage allerdings in der Regel schon im Zeitpunkt des endgültigen Gesetzesbeschlusses über die Neuregelung. Mit dem Tag des Gesetzesbeschlusses müssen die Betroffenen mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen; es ist ihnen von diesem Zeitpunkt an zuzumuten, ihr Verhalten auf die beschlossene Gesetzeslage einzurichten. Der Gesetzgeber ist deshalb berechtigt, den zeitlichen Anwendungsbereich einer Regelung auch auf den Zeitpunkt von dem Gesetzesbeschluß bis zur Verkündung zu erstrecken (vgl. BVerfGE 13, 261 [272 f.]; 31, 222 [227]; 95, 64 [87]).

c) Das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot darf allein aus zwingenden Gründen des gemeinen Wohls oder wegen eines nicht - oder nicht mehr - vorhandenen schutzbedürftigen Vertrauens des Einzelnen durchbrochen werden (vgl. BVerfGE 72, 200 [258]). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Rechtfertigungsgründe falltypisch, aber nicht erschöpfend entwickelt worden (vgl. BVerfGE 72, 200 [258 ff.]).

Liegt in diesem Sinne ein Grund vor, der es von Verfassungs wegen rechtfertigt, das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot zu durchbrechen, so darf diese Durchbrechung gleichwohl nicht zu Ergebnissen führen, die den grundrechtlichen Schutz des Lebenssachverhalts verletzen, der von dem Eingriff betroffen ist (vgl. BVerfG, a. a. O.).

Die Rechtfertigungsgründe, zitiert aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14.5.1986, BVerfGE 72, 200 [258 ff.]

[...] (1) Von den möglichen Rechtfertigungsgründen für die in Rede stehende Änderung der steuerlichen Rechtsfolgen kommt hier der sogenannte Bagatellvorbehalt nicht in Betracht. [...]

(2) Vor der Verkündung des Außensteuergesetzes war im fraglichen Sachbereich auch keine unklare oder verworrene Rechtslage gegeben, deren Ersetzung durch eine eindeutige, allerdings fallweise stärker belastende Regelung hätte gerechtfertigt sein können (dazu BVerfGE 13, 261 [272]; 30, 367 [388 f.]). [...]

(3) Ebensowenig läßt sich behaupten, durch § 2 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 2 AStG sei mit Wirkung vom 1. Januar 1972 eine verfassungswidrige Lücke im bisherigen System der inländischen Einkommenbesteuerung geschlossen worden, auf deren Fortbestand zu keiner Zeit habe vertraut werden dürfen (vgl. dazu BVerfGE 13, 261 [272]). [...]

(4) Die Entstehungsgeschichte des Außensteuergesetzes belegt schließlich nicht, daß die hier in Rede stehende Änderung des Steuerrechts aus »zwingenden Gründen des gemeinen Wohls« (dazu BVerfGE 13, 261 [272]; 30, 367 [390 f.]) geboten gewesen wäre. [...]

(5) Allerdings entfiel für die von der Neuregelung Betroffenen vom Tag des Gesetzesbeschlusses des Bundestages über das Außensteuergesetz an das bis dahin gegebene schutzwürdige Vertrauen in den Fortbestand der ursprünglichen Rechtslage. Ab diesem Tage mußten die Betroffenen mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen. Es war ihnen daher zuzumuten, ihr Verhalten seither auf deren Inhalt einzurichten. Unter diesen Umständen durfte der Gesetzgeber den zeitlichen Anwendungsbereich der in Rede stehenden Regelung auch auf den Zeitraum vom Gesetzesbeschluß bis zur Verkündung - nicht jedoch für die Zeit vor dem Gesetzesbeschluß - erstrecken. [...]