ladisch.de > Deutsches Recht > Wohngeld BVerwGE 69, 202
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Urteil vom 3. Mai 1984 - BVerwG 8 C 175.81. Vorinstanzen: Verwaltungsgericht Düsseldorf, Oberverwaltungsgericht Münster
Ein Familienmitglied ist nicht mehr nur »vorübergehend abwesend« i. S. des § 4 Abs. 3 Satz 1 WoGG, wenn nach Lage der Dinge die Familie seine Rückkehr in den Familienhaushalt vernünftigerweise nicht mehr erwarten kann.
Für die Beantwortung der Frage, ob ein Familienmitglied als (noch) vorübergehend oder aber als (schon) auf unabsehbare Zeit abwesend anzusehen ist, haben nach außen erkennbare Entscheidungen des Abwesenden nach Wegfall des Grundes, der für das Verlassen der Familienwohnung ursächlich war, besonderes Gewicht.
Der Kläger ist jugoslawischer Staatsangehöriger. Er hält sich seit 1972 erlaubtermaßen in der Bundesrepublik Deutschland auf, während seine Ehefrau mit den gemeinsamen Kindern in Jugoslawien lebt. Der Kläger, der bei Betrieben des Baugewerbes tätig war, erlitt im Jahre 1976 einen Verkehrsunfall. Ihm wurde danach vorübergehend Sozialhilfe und zeitweise Sozialrente gewährt; Rentenansprüche waren im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts Gegenstand sozialgerichtlicher Verfahren. Der Kläger beantragte die Gewährung von Wohngeld in Form eines Mietzuschusses. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, der Kläger nutze den Wohnraum, für den er Wohngeld begehre, nur vorübergehend.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, den Antrag auf Gewährung von Wohngeld unter Beachtung seiner Rechtsauffassung erneut zu bescheiden. Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht.
Die Annahme des Berufungsgerichts, einem vom Familienhaushalt abwesenden Familienmitglied sei Wohngeld zu versagen, solange es noch innere Bindungen an seine Familie habe und es sich deshalb noch nicht derart von ihr gelöst habe, daß eine Rückkehr in den Familienhaushalt schlechthin oder nahezu ausgeschlossen sei, verletzt Bundesrecht.
In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. u. a. BVerwGE 44, 265 [266]) ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß über den vom Kläger geltend gemachten Wohngeldanspruch für den gesamten Zeitraum seit dem Antragsmonat zu entscheiden ist. Zutreffend hat es daher für die Zeit bis zum 31. Dezember 1980 auf das Wohngeldgesetz in der Fassung vom 29. August 1977 (BGBl. I S. 1685) - WoGG 77 - und für die Zeit danach auf das Wohngeldgesetz in der Fassung vom 21. September 1980 (BGBl. I S. 1741) - WoGG 80 - abgestellt. Nicht zu beanstanden ist ferner die Auffassung des Berufungsgerichts, daß Wohngeld nach § 22 Nr. 2 WoGG 77 bzw. § 18 Abs. 2 Nr. 1 WoGG 80 zu versagen bzw. nicht zu gewähren ist für Wohnraum, der von Personen während der Zeit benutzt wird, in der sie vom Familienhaushalt »vorübergehend abwesend« im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 der insoweit wortgleichen Fassungen des WoGG 77 und des WoGG 80 sind. Zu folgen ist schließlich dem Berufungsgericht auch, wenn es meint, die in § 4 Abs. 3 Satz 2 der beiden genannten Fassungen des Wohngeldgesetzes enthaltene Definition des Merkmals »vorübergehend abwesend« sei von Belang für die Anwendung sowohl des § 18 Abs. 2 Nr. 1 WoGG 80 als auch des § 22 Nr. 2 WoGG 77, obwohl die letztere Bestimmung ausdrücklich nur auf § 4 Abs. 3 Satz 1 WoGG Bezug nimmt. Daß der Sache nach auch § 4 Abs. 3 Satz 2 WoGG 77 in die Bezugnahme des § 22 Nr. 2 WoGG 77 eingeschlossen sein soll, ergibt sich nicht zuletzt aus der amtlichen Begründung des entsprechenden Gesetzentwurfs (vgl. BT-Drucks. 8/287 S. 54).
Mit Bundesrecht nicht vereinbar hingegen ist die Annahme des Berufungsgerichts, eine Person sei als vom Familienhaushalt nur »vorübergehend abwesend« im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 WoGG 77 bzw. WoGG 80 zu qualifizieren, solange sie noch innere Bindungen an ihre Familie habe und sich deshalb von ihr nicht derart gelöst habe, daß eine Rückkehr in den Familienhaushalt schlechthin oder nahezu ausgeschlossen sei. Ganz abgesehen davon, daß das allein auf ein subjektives Moment abhebende Kriterium der »inneren Bindung des Abwesenden an seine Familie« - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - wenig praktikabel wäre, entspricht es auch nicht der Rechtslage, dieses subjektive Moment als entscheidend anzusetzen, um Personen, die als »vorübergehend abwesend« gemäß §§ 22 Nr. 2 WoGG 77 bzw. 18 Abs. 2 Nr. 1 WoGG 80 keinen eigenen Wohngeldanspruch haben, von denen abzugrenzen, denen dieser Versagungsgrund nicht entgegengehalten werden kann. Das ergibt sich im einzelnen aus folgenden Überlegungen:
Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 25. März 1971 (BVerwGE 38, 18 [20]) zu dem Merkmal »vorübergehend abwesend« (seinerzeit des § 26 1. WoGG) ausgeführt hat, ist der darauf abstellende Versagungsgrund seiner Zweckbestimmung nach darauf ausgerichtet zu verhindern, daß jemand, der als haushaltsangehöriges Familienmitglied bei der Bemessung des für den Familienhaushalt zu gewährenden Wohngelds wohngelderhöhend zu berücksichtigen ist, auch noch einen eigenen Wohngeldanspruch erwerben kann. Das bedeutet allerdings nicht, daß - wie der Senat in der angegebenen Entscheidung ebenfalls dargelegt hat - der hier in Rede stehende Versagungsgrund nur eingreift, wenn für die Familienwohnung Wohngeld unter Berücksichtigung des Abwesenden gewährt worden ist. Maßgebend ist nicht, ob für den Familienhaushalt überhaupt ein Wohngeldanspruch besteht oder ein Wohngeld geltend gemacht worden ist, sondern ob - wenn für den Familienhaushalt ein Wohngeldanspruch bestünde - das abwesende Familienmitglied bei der Bemessung der Höhe dieses Anspruchs mitzuberücksichtigen wäre oder nicht. In diesem Sinne stellt der Versagungsgrund der »vorübergehenden« Abwesenheit seiner gesetzlichen Konzeption nach auf einen Interessengegensatz zwischen dem Familienhaushalt bzw. genauer: der verbliebenen (Rest-)Familie einerseits und dem abwesenden Familienmitglied andererseits ab: Das sich von der Familie trennende Familienmitglied kann solange keinen eigenen Wohngeldanspruch erwerben, wie es im (Wohngeld-)Interesse der (Rest-)Familie dem Familienhaushalt zuzurechnen ist, und es ist ihm solange zuzurechnen, wie die (Rest-)Familie schutzwürdig erwarten kann, daß das abwesende Familienmitglied bei einem (gedachten) Wohngeldantrag unverändert zu ihren Gunsten wohngelderhöhend zu berücksichtigen sei. Das ist der Fall, solange vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, die Rückkehr des Abwesenden in den Familienhaushalt sei nicht unwahrscheinlich und daher »obliege« es der (Rest-)Familie, für den Abwesenden weiterhin Wohnraum vorzuhalten. Die damit gekennzeichnete Interessenlage macht zugleich verständlich, daß zum einen ausschließlich Umstände, die auch der Wohngeldbehörde erkennbar sind, die Annehme rechtfertigen können, ein Familienmitglied sei nicht nur »vorübergehend«, sondern auf unabsehbare Zeit und in diesem Sinne »dauernd« abwesend, und daß zum anderen dann, wenn entscheidungserhebliche Feststellungen zum Tatbestandsmerkmal »vorübergehend abwesend« nicht getroffen werden können, das abwesende Familienmitglied als Kläger grundsätzlich der Rechtsnachteil trifft, der Folge der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts ist (vgl. BVerwGE 44, 265 [269 ff.]).
Der Gesetzgeber hat in § 4 Abs. 3 Satz 2 WoGG 77 bzw. WoGG 80 definiert, »vorübergehend abwesend sind Familienmitglieder, wenn der Familienhaushalt auch während der Abwesenheit Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen bleibt«. Damit hat er zum Ausdruck gebracht, daß - erstens - die (Rest-)Familie schutzwürdig die Berücksichtigung des Abwesenden bei einem (gedachten) eigenen Wohngeldantrag erwarten darf, solange der Familienhaushalt noch Mittelpunkt von dessen Lebensbeziehungen ist, und daß - zweitens - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts in diesem Zusammenhang nicht allein »innere Bindungen an die Familie«, d. h. ein »inneres« Moment, sondern in erster Linie faktische Momente (Familienhaushalt, Mittelpunkt der Lebensbeziehungen) maßgebend sein sollen. Das hat der Gesetzgeber noch dadurch bekräftigt, daß - vor dem Hintergrund der angesprochenen Interessenlage letztlich zugunsten der (Rest-)Familie - nach § 4 Abs. 3 Satz 2 2. Halbs. WoGG 77 bzw. § 4 Abs. 3 Satz 3 WoGG 80 eine nur vorübergehende Abwesenheit beispielsweise (widerlegbar) zu vermuten ist, solange abwesende Familienmitglieder »noch für ihre Lebenshaltung überwiegend von anderen zum Haushalt rechnenden Familienmitgliedern unterstützt werden«. Für die Abgrenzung zwischen einer (nur) »vorübergehenden« und einer (schon) auf unabsehbare Zeit angelegten und in diesem Sinne »dauernden« Abwesenheit kommt somit dem Kriterium »innere Bindungen an die Familie« grundsätzlich keine entscheidende, sondern lediglich - von Fall zu Fall - indizielle Bedeutung zu. Das Fortbestehen innerer Bindungen an die Familie rechtfertigt als solches nicht den Schluß, es sei wahrscheinlich, der Abwesende werde (alsbald oder später) in den Familienhaushalt zurückkehren. So kann etwa Ausländern aus politischen Gründen eine solche Rückkehr auf unabsehbare Zeit verwehrt sein. Auch beispielsweise Abkömmlinge können sich endgültig von ihrem elterlichen Familienhaushalt trennen, ohne damit zugleich die inneren Bindungen an ihre elterliche Familie zu verlieren. Aus diesem Grunde ist es für die Qualifizierung einer Abwesenheit als nicht mehr nur vorübergehend ohne Belang, ob der Abwesende seine Familie finanziell unterstützt, sie in regelmäßigen Abständen besucht oder mit ihr den Urlaub verbringt. Denn solche Kontakte finden vielfach - soweit möglich - auch dann statt, wenn jemand sich ganz von dem Familienhaushalt gelöst hat, zu dem er früher gehörte.
Abgrenzungserheblich sind vornehmlich Umstände, die objektiv erkennen lassen, das abwesende Familienmitglied habe sich derart vom Familienhaushalt gelöst, daß seine Rückkehr unwahrscheinlich geworden ist und daher die verbliebene Familie bei einem (gedachten) eigenen Wohngeldantrag nicht mehr schutzwürdig erwarten kann, der Abwesende sei zu ihren Gunsten wohngelderhöhend zu berücksichtigen. Das ist etwa nicht mehr der Fall, wenn die Familie für den Abwesenden tatsächlich keinen Wohnraum mehr vorhält, d. h. die Entwicklung seit Beginn der Abwesenheit so ist, daß bei einer Rückkehr der den Umständen nach erforderliche Wohnraum ohne Anmietung einer neuen Wohnung oder weiteren Wohnraums nicht vorhanden wäre. Und es ist ebenfalls nicht mehr der Fall, wenn eine »Obliegenheit« der Familie zur Vorhaltung von Wohnraum für das abwesende Familienmitglied deshalb nach Lage der Dinge nicht mehr besteht, weil dieses erkennbar Entscheidungen getroffen hat, die seine Rückkehr in die Familienwohnung als unwahrscheinlich erscheinen lassen (vgl. u. a. BVerwGE 38, 18 [24 f.]). Das anzunehmen liegt insbesondere nahe bei Entscheidungen des Abwesenden nach Wegfall des Grundes, der für das Verlassen der Familienwohnung ursächlich war, z. B. die Aufnahme eines auf längere Dauer angelegten Arbeitsverhältnisses nach Beendigung einer Ausbildung oder bei einem Gastarbeiter der Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland nach Verlust des Arbeitsplatzes, vor allem wenn dieser Verlust auf eine Arbeitsunfähigkeit des Abwesenden oder darauf zurückzuführen ist, daß der bisherige Arbeitsplatz »eingespart« wurde und eine alsbaldige Beendigung der Arbeitslosigkeit nicht in Aussicht steht. Derartigen Entscheidungen kommt besonderes Gewicht zu, da sie in der Regel den Schluß zulassen, der Familienhaushalt sei nicht (mehr) Mittelpunkt der Lebensbeziehungen des Abwesenden. Von Belang kann in diesem Zusammenhang u. a. auch das Eingehen einer ehelichen oder eheähnlichen Partnerschaft, d. h. einer engen persönlichen Bindung sein, die auf einen neuen Mittelpunkt der Lebensbeziehungen hindeutet. Handelt es sich bei dem abwesenden Familienmitglied um einen Ehegatten, liegt es ferner nahe, die Abwesenheit als nicht mehr nur vorübergehend zu qualifizieren, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, von deren Vorliegen das Merkmal des Getrenntlebens i. S. des § 1567 Abs. 1 BGB abhängig ist (vgl. u. a. auch Ziff. 4.33 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Wohngeldgesetz vom 22. Dezember 1980, BAnz. Nr 242 a). Denn ein Abwesender, der von seinem Ehepartner getrennt i. S. des § 1567 Abs. 1 BGB oder (dauernd) getrennt i. S. des § 26 bs. 1 EStG lebt, wird kaum noch zu den Familienmitgliedern zählen können, die bei einem (gedachten) Wohngeldantrag für den Familienhaushalt diesem wohngelderhöhend zuzurechnen sind. Überdies ist die Dauer nicht ohne Einfluß darauf, ob eine Abwesenheit noch als nur vorübergehend einzustufen ist. Je länger die Abwesenheit anhält, desto weniger wird meist für die Annahme sprechen, der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen des abwesenden Familienmitglieds sei nach wie vor der Familienhaushalt. Treten etwa zu einer Abwesenheit von mehr als einem Jahrzehnt weitere Umstände hinzu, die dafür sprechen, daß die Abwesenheit noch unübersehbare Zeit andauern wird und deshalb der Zeitpunkt einer Rückkehr in den Familienhaushalt schlechthin nicht absehbar ist, wird regelmäßig eine nur vorübergehende Abwesenheit im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 WoGG 77 bzw. WoGG 80 nicht mehr angenommen werden können. Jedenfalls aber wird sich bei einer solchen Fallgestaltung die grundsätzlich dem abwesenden Familienmitglied als Kläger in einem Wohngeldrechtsstreit obliegende Feststellungslast zu seinen Gunsten umkehren, so daß nunmehr die Behörde der Rechtsnachteil trifft, der Folge der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts ist.
Auf der Grundlage der vorstehenden Darlegungen wird das Berufungsgericht im Rahmen seiner erneuten Verhandlung tatsächliche Feststellungen zu treffen haben, die eine abschließende Beurteilung der Frage zulassen, ob die Abwesenheit des Klägers von dem in Jugoslawien bestehenden Familienhaushalt noch als eine nur vorübergehende, einen eigenen Wohngeldanspruch des Klägers ausschließende oder aber eine auf unabsehbare Zeit andauernde, einem Wohngeldanpruch nicht entgegenstehende zu qualifizieren ist.